Hat das Europarecht kompletten Vorrang vor nationalem Recht?




Eingangs muss erwähnt werden, dass die Europäische Union eine supranationale Organisation ist, welche die Kompetenz hat für ihre Mitgliedstaaten und deren Bürger verbindliche Anordnungen zu treffen. Es ist wichtig zu wissen, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung und die nationale Rechtsordnung sich in gewisser Weise durchdringen und somit auch voneinander abhängig sind. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht sich zwar als eigenständige und getrennte Rechtsordnung gegenüberstehen, aber trotzdem nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Von wesentlicher Bedeutung ist jedoch die Klärung des Rangverhältnisses zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalen Recht. Diese Rangfrage hat große Bedeutung, weil eine einheitliche Geltung sowie eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechtes in den Mitgliedstaaten für das Funktionieren der Gemeinschaften notwendig ist, was jedoch nur bei einem Vorrang des Gemeinschaftsrechtes vor nationalem Recht gesichert werden kann. Dass das Gemeinschaftsrecht nicht vom nationalen Recht isoliert betrachtet werden kann, zeigt sich insbesondere darin, dass das Gemeinschaftsrecht des nationalen Vorzugs bedarf, wie beispielsweise die Umsetzung von Richtlinien durch alle Mitgliedstaaten. Andererseits kann das Gemeinschaftsrecht der zulässigen Anwendung nationalen Rechts gewisse Grenzen setzen.

In diesem Zusammenhang muss jedoch beachtet werden, dass dem Gemeinschaftsrecht prinzipiell Vorrang vor nationalem Recht zukommt. Zudem gibt es verschiedene Arten des Vorranges des Gemeinschaftsrechtes vor nationalem Recht, wie etwa der Geltungsvorrang oder der Anwendungsvorrang. Es ist jedoch wichtig den Geltungsvorrang vom Anwendungsvorrang abzugrenzen. Beim Geltungsvorrang ist es so, dass zwei Rechtsnormen miteinander kollidieren, weil sie den gleichen Sachverhalt regeln. In solch einen Fall wird die niederrangige Rechtsnorm von der höherrangigen Rechtsnorm verdrängt, was wiederum zur Folge hat, dass die niederrangige Rechtsnorm nichtig wird und somit überhaupt nicht mehr angewendet wird. Geltungsvorrang würde somit bedeuten, dass das nationale Recht, das mit Gemeinschaftsrecht kollidiert, durch diese Kollision ungültig wird, aber auch in Fällen, in denen es keine Kollision gibt, auch nicht mehr angewendet werden darf.

Der Unterscheid zwischen Anwendungsvorrang und Geltungsvorrang besteht somit darin, dass der Anwendungsvorrang im Gegensatz zum Geltungsvorrang festlegt, dass die verdrängte Norm weiterhin anwendbar bleibt und nur für die spezifischen Sachverhalte, bei denen sie mit der anderen Norm kollidiert, verdrängt wird. Aus dem Anwendungsvorrang ist daher abzuleiten, dass im Falle einer Kollision von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht das Gemeinschaftsrecht anzuwenden ist und das nationale Recht somit zurücktritt. Der Anwendungsvorrang berührt aber nicht die Geltung des nationalen Rechts, wenn es nicht mit Gemeinschaftsrecht kollidiert. Zu folgen ist jedoch eher der Anwendungsvorrang, da sowohl der Europäische Gerichtshof als auch die Verfassungsgerichte darin einig sind, dass dem Gemeinschaftsrecht auf jeden Fall im Verhältnis zu nationalem Recht nur ein Anwendungsvorrang zukommt, aber kein Geltungsvorrang. Daraus ist somit zu entnehmen, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechtes kein genereller Vorrang ist und sich nicht auf dessen Geltung bezieht, sondern allein auf seine Anwendung.

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